Stammzelltransport in Corona-Zeiten: „Es gibt keine Alternative“
Experteninterview mit Dr. Alexander Schmidt, Geschäftsführer Medizin & Wissenschaft der DKMS
Wie gefährlich sind die Corona-Reisebeschränkungen, wenn es um Stammzelltransporte für Blutkrebspatienten geht? Warum fliegen Stammzellspenden so oft um die halbe Welt, und wie kann Kryokonservierung dazu beitragen, die Patientensicherheit zu erhöhen? All das erläutert Dr. Alexander Schmidt, Geschäftsführer Medizin & Wissenschaft der DKMS, im Interview.
Herr Dr. Schmidt, weltweit warten zurzeit hunderte Blutkrebspatienten auf eine lebensrettende Stammzellspende. Für sie sind die Reisebeschränkungen, die die meisten Länder aufgrund der Coronakrise verhängt haben, lebensbedrohlich. Warum?
Eine Stammzelltransplantation kommt nur dann zum Einsatz, wenn andere Therapiemöglichkeiten versagt haben oder von vornherein nicht infrage kommen. Für viele Blutkrebspatienten ist eine Stammzelltransplantation die einzige Überlebens- und Heilungschance. Ist die Diagnose gestellt, beginnt oft ein Wettlauf gegen die Zeit. Leidet ein Patient zum Beispiel an einer akuten Leukämie, muss die Transplantation so schnell wie möglich erfolgen. Die DKMS arbeitet deshalb – in enger Zusammenarbeit mit ihren internationalen Partnern – mit Hochdruck daran, diesen Patienten zu helfen! Gemeinsam setzen wir schon seit Wochen alle Hebel in Bewegung, damit die dringend benötigten Stammzellspenden auch während der Coronakrise rechtzeitig bei den Patienten ankommen.
Wie erfolgreich sind diese Bemühungen?
Bisher ist es uns unter größten Anstrengungen gelungen, alle Stammzellspenden rechtzeitig und unversehrt zuzustellen. Und wir arbeiten unermüdlich daran, dass das so bleibt. Wir stehen jeden Tag vor neuen Herausforderungen, um Patienten weltweit mit lebensrettenden Stammzelltransplantaten zu versorgen. Wie wichtig dabei die Zusammenarbeit mit unseren internationalen Partnern ist, zeigt das Beispiel USA: Das National Marrow Donor Program (NMDP) konnte für die USA eine pauschale Reiseverbotsverzichtserklärung erwirken, mit Unterschrift des Direktors des Center for Disease Control and Prevention. Damit wird sichergestellt, dass europäische Kuriere trotz des Reiseverbots Stammzellspenden in die USA transportieren dürfen – ein riesiger Erfolg! Die Verzichtserklärung wurde an die europäischen Botschaften und die Einreisehäfen der USA verteilt, sodass auch Nicht-US-Bürger trotz des Reiseverbots mit Spenderprodukten in die USA einreisen können. Dank dieser Verzichtserklärung vom 15. März konnten seitdem 90 Transplantate von DKMS-Spendern aus Deutschland erfolgreich in die Vereinigten Staaten transportiert werden.
Eine Entspannung der Situation ist erst mal nicht zu erwarten. Wie bereitet sich die DKMS auf die nächsten Wochen und Monate vor?
Tatsächlich ist davon auszugehen, dass der Passagierflugverkehr weiter eingeschränkt bleibt oder vielleicht sogar vollständig gestoppt wird. Unsere Vorbereitungen auf dieses Szenario sind in vollem Gange. Zusammen mit höchst engagierten Fluggesellschaften und Kurierunternehmen haben wir bereits getestet, wie Stammzellspenden in den Cockpits von Frachtflugzeugen – ohne einen eigens dafür beauftragten Kurier – transportiert werden können. Dieser Prozess könnte vielleicht zum neuen Standard für den weiteren Verlauf der Krise werden.
Was empfehlen Sie den behandelnden Ärzten an den Transplantationskliniken?
Wir empfehlen, ebenso wie die meisten internationalen Stammzellspenderdateien, Register und Fachgesellschaften, dass nach Möglichkeit vor Beginn der Patientenkonditionierung Stammzellspenden von unverwandten Spendern kryokonserviert werden sollten. Unter „Kryokonservierung“ versteht man das Aufbewahren von Zellen oder Gewebe durch Einfrieren in Stickstoff. Dies ist zum Beispiel ein gängiges Verfahren für Nabelschnurblutspenden. Dadurch ist gesichert, dass das Spendertransplantat am vorgesehenen Tag für die Transplantation auch wirklich zur Verfügung steht.
Warum ist es überhaupt notwendig, dass Stammzellspenden um die halbe oder sogar ganze Welt fliegen? Wäre es nicht einfacher, wenn sie einem nahen Familienmitglied, einem Nachbarn oder einem Freund entnommen würden?
Damit körperfremde Stammzellen unverwandter Spender erfolgreich transplantiert werden können, müssen die Gewebemerkmale (HLA-Merkmale) von Patient und Spender möglichst weitgehend übereinstimmen. Ansonsten kommt es zu lebensbedrohlichen Abstoßungsreaktionen. Die HLA-Merkmalkombination eines Menschen ist jedoch ähnlich individuell wie sein Fingerabdruck. Nur rund 30 Prozent der Patienten finden einen geeigneten Spender innerhalb der eigenen Familie. Alle anderen sind darauf angewiesen, dass es irgendwo auf der Welt einen Menschen gibt, der nahezu die gleichen HLA-Merkmale aufweist und sich irgendwann mal als potenzieller Stammzellspender hat registrieren lassen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Stammzellspende auf ihrem Weg zum Patienten Ländergrenzen oder sogar Ozeane überqueren muss, ist deshalb relativ hoch. 74 Prozent der Stammzellspenden von DKMS-Spendern gehen ins Ausland, bisher in 57 Länder der Welt.
Wie passt das damit zusammen, dass die Wahrscheinlichkeit, einen geeigneten Spender zu finden, in der eigenen ethnischen Population am größten ist?
Tatsächlich ist es so, dass in jeder ethnischen Population bestimmte HLA-Merkmalkombinationen besonders häufig vorkommen. In einer idealen Welt gäbe es überall genügend registrierte Stammzellspender, und jeder Blutkrebspatient fände – unabhängig von seiner Herkunft – einen geeigneten Spender. In der Realität sieht es aber so aus, dass es in manchen Regionen der Welt noch so gut wie gar keine registrierten Spender gibt. Um das zu ändern, stellt sich die DKMS zunehmend international auf. Schon jetzt sind wir in sechs verschiedenen Ländern aktiv, um Stammzellspender mit unterschiedlichen genetischen Wurzeln zu registrieren: in Deutschland, Polen, Großbritannien, Chile, Indien und den USA. Insgesamt sind bei der DKMS heute rund 10 Millionen Spender registriert – das ist fast ein Drittel der insgesamt weltweit registrierten Spender. Dass unsere Spender auch im Ausland so gefragt sind, liegt insbesondere an dieser großen Zahl registrierter Spender unterschiedlichster Herkunft sowie an unserer überaus hohen Typisierungsqualität, die eine besonders schnelle Identifikation und Vermittlung von geeigneten Spendern möglich macht.
Angesichts der aktuellen Herausforderungen durch die Coronakrise könnte man sich fragen, ob die Transplantation von Stammzellen nicht-verwandter Spender in diesen unruhigen Zeiten noch eine geeignete Therapiemethode darstellt. Gibt es keine geeignete Alternative?
Nein, für viele Blutkrebspatienten nicht. Welche Therapie zum Einsatz kommt, entscheiden die behandelnden Ärzte im Sinne ihrer Patienten – und dabei ist die HLA-gematchte Transplantation von Stammzellen eines unverwandten Spenders sehr häufig die Therapie der ersten Wahl. Auch jetzt, in der Coronakrise, erhalten wir fortwährend zahlreiche Anfragen nach Stammzellspenden von unverwandten Spendern, weil die Transplantationszentren weiterhin der Ansicht sind, dass dies im besten Interesse ihrer Patienten ist.
Vielen Dank für das Interview!
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