„Nur ein neues Immunsystem kann Heilung bringen“
Prof. Dr. med. Dieter Körholz zu seltenen Immundefekten am Beispiel der Hämophagozytischen Lymphohistiozytose (HLH)
Prof. Dr. med. Dieter Körholz ist Chefarzt und Leiter der Pädiatrischen Hämatologie und Onkologie am Zentrum für Kinderheilkunde und Jugendmedizin des Universitätsklinikums Gießen und Marburg (Standort Gießen). Die Abteilung ist spezialisiert auf die Behandlung von Krebserkrankungen, Immundefekten und Störungen der Blutbildung. Das Gießener pädiatrisch-onkologische Zentrum ist eines der zehn größten kinderonkologischen Einrichtungen in Deutschland, in dem Kinder und Jugendliche mit einer neu diagnostizierten Tumorerkrankung sowie Patienten mit Immundefekten behandelt werden. Auf der Station für Knochenmarktransplantation (KMT) in der Kinderonkologie werden Patienten im Alter von 0 bis 20 Jahren transplantiert. Jährlich werden rund 30 Stammzelltransplantationen durchgeführt.
Herr Professor Körholz, was genau ist eine Hämophagozytische Lymphohistiozytose (HLH)?
Die Hämophagozytische Lymphohistiozytose ist gekennzeichnet durch verschiedene klinische Symptome. Betroffene Patienten können antibiotikaresistentes Fieber über mindestens sieben Tage, und eine vergrößerte Milz haben. Das Blutbild weist in mindestens zwei von drei Blutzellreihen – also rote Blutkörperchen, weiße Blutkörperchen oder/und Blutplättchen – verminderte Werte auf. Zusätzlich haben sie erhöhte Blutfettwerte und verminderte Werte für das Fibrinogen, einen wichtigen Gerinnungsfaktor. Bei vielen Patienten sieht man im Knochenmark auch eine so genannte Hämophagozytose – das „Auffressen“ von Blutzellen. Das resultiert daraus, dass die Zellen des Abwehrsystems überaktiviert sind. Außerdem fällt eine verminderte Aktivität der natürlichen Killerzellen auf, und man sieht eine starke Erhöhung von Entzündungsparametern. Wenn mindestens fünf dieser Kriterien vorliegen, dann spricht man von einer HLH.
Wie kommt es denn zu dieser seltenen Erkrankung?
Bei jeder Infektion wird das Immunsystem aktiviert. Es muss jedoch nach dem Abklingen der Infektion wieder abgeschaltet werden, damit es nicht zu der bereits beschriebenen Überstimulation kommt. Es gibt bestimmte Mechanismen, zum Beispiel die so genannte Apoptose (gesteuerter Zelltod), die eine Immunreaktion beenden können. Bei verschiedenen Immundefekt-Formen ist dieser Mechanismus der Apoptose jedoch gestört. Das führt zu einer Überaktivierung des Immunsystems, die dann die normale Knochenmarkfunktion angreift. Dadurch kommt es schließlich zu einem Mangel an weißen und roten Blutkörperchen sowie an Blutplättchen. Das wiederum erhöht das Risiko, an einer schweren Infektion zu erkranken. Es tritt eine paradoxe Situation auf, die darin besteht, dass Patienten eine schwere Infektion durch eine Überreaktion des Immunsystems erleiden, obwohl das Immunsystem normalerweise Infektionen bekämpfen soll.
Was sind denn die Ursachen dafür?
In vielen dieser Fälle sind das defekte Gene. Bevor wir die Diagnose stellen, werden daher aufwändige genetische Untersuchungen in Speziallaboren durchgeführt. In der Verfeinerung der molekularen Diagnostik sind in den vergangenen fünf Jahren zum Teil erhebliche Fortschritte gemacht worden. Ein großer Teil der Immundefekte ist vererbbar, allerdings rezessiv. Das heißt: Es müssen zwei Menschen als Merkmalsträger zusammenkommen, die beide auf einem Gen den Defekt tragen. Statistisch gesehen erkrankt ein Viertel ihrer gemeinsamen Kinder. Wir kennen durchaus Fälle, in denen sogar mehrere Kinder eines Elternpaares diese Krankheit entwickelten. Meistens handelt sich jedoch um eine Neumutation.
Wann wird eine HLH in der Regel diagnostiziert?
Die HLH fällt meist in den ersten fünf bis sechs Lebensjahren auf. Unsere kleinen Patienten kommen oft mit schweren bakteriellen Infektionen zu uns in die Klinik und weisen verminderte Blutwerte auf. Wir behandeln hier zunächst mit Antibiotika – mit mäßigem Erfolg. Das Problem: Wir müssen zunächst das überstimulierte Immunsystem herunter regulieren, was allerdings nicht zu einer dauerhaften Heilung führt. Bei der nächsten Infektion kann alles wieder aufflammen und sogar noch schwerer ausfallen. Manchmal kommen Patienten aus diesem Teufelskreis nicht mehr heraus. Das ist der Grund, warum wir nach einer solchen ersten Episode eine Stammzelltransplantation anstreben.
Aus welchen Gründen genau ist die Stammzelltherapie hier eine wichtige Option?
Eine dauerhafte Heilung ist nur dann zu erreichen, wenn das Immunsystem wieder in sein Gleichgewicht gebracht wird, also nicht mehr „überschießt“. Bei der allogenen Stammzelltransplantation, einer so genannten Fremdspende erhalten Patienten von einem gesunden Spender Knochenmark und damit ein neues, gut funktionierendes Immunsystem. Dies gilt allerdings nur für Patienten, bei denen ein genetischer Defekt nachgewiesen wurde.
Warum bedarf es einer allogenen Stammzelltransplantation?
Wir haben es mit einem kranken Immunsystem zu tun, und das lässt sich nur heilen, indem man dem Patienten ein neues, gesundes Immunsystem transplantiert.
Wird bei der HLH bevorzugt mit Knochenmark oder mit Stammzellen aus dem peripheren Blut transplantiert?
Wir bevorzugen Knochenmark, weil das Risiko einer Gegenreaktion auf das Transplantat hier geringer ist. Einige Spender finden die Stammzellspende besser, weil sie für den Spender einfacher ist. Er bekommt den Wachstumsfaktor G-CSF gespritzt und wird ambulant an eine Apherese-Maschine angeschlossen, die die Stammzellen aus dem peripheren Blut herausfiltert. Eine Knochenmarkentnahme bedeutet immer einen operativen Eingriff.
Bevor es zur Stammzelltransplantation kommt, steht ja zuerst die Spendersuche an. Wann leiten Sie die in der Regel ein?
Sobald der Immundefekt sicher diagnostiziert ist, wird ein geeigneter Stammzellspender gesucht.
Worauf achten Sie als Arzt bei der Auswahl von Stammzellspendern besonders?
In den meisten Fällen suchen wir nach unverwandten Fremdspendern. Man kann Stammzellen von gesunden Geschwistern transplantieren, wenn sie denselben HLA-Typ haben und wenn nachgewiesen ist, dass sie keinen Immundefekt haben. Aber das ist eher die Ausnahme. Wir schauen sehr genau auf die HLA-Merkmale, bei denen mindestens neun von zehn, besser zehn von zehn zwischen Spender und Patient übereinstimmen sollten. Außerdem schauen wir auf die Virussituation: Hatte der Patient schon einmal Kontakt mit dem CMV-Virus*? Dann wäre es gut, einen Spender zu haben, der ebenfalls einen positiven CMV-Status hat. Bei der Wahl zwischen einem weiblichen und einem männlichen Spender bevorzugen wir hier eher männliche Spender, um das Risiko einer Spender gegen-Empfänger-Erkrankung zu reduzieren. Der Spender muss natürlich frei von aktiven Infektionen sein.
Gestalten sich die Spendersuchen oft schwierig?
Für Kinder, die aus Deutschland oder aus dem europäischen Raum kommen und ihre genetischen Wurzeln dort haben, ist es in der Regel kein Problem, einen Spender zu finden. Schwieriger wird es, wenn wir Patienten mit Migrationshintergrund haben, zum Beispiel aus dem arabischen Raum. Da gibt es nicht so viele verfügbare Spender. Deshalb wäre es ganz wichtig, dass sich Menschen dieser speziellen ethnischen Gruppen aus dem arabischen Raum typisieren lassen und als Spender zur Verfügung stehen. So könnte die Verfügbarkeit von Spendern mit diesem speziellen HLA-Background deutlich verbessert werden.
Wie viele Patienten mit Immundefekten behandeln Sie derzeit?
Wir haben aktuell sechs Patienten mit Immundefekten, die in den kommenden Monaten transplantiert werden müssen. Weil wir die Identifikation von Immundefekten hier in Gießen in den vergangenen drei Jahren als Schwerpunkt aufgebaut haben, diagnostizieren wir zunehmend Patienten, die wir früher nicht gesehen hätten. Unsere umfangreichen Erfahrungen geben uns die Möglichkeit, betroffene Familien besser beraten und untersuchen zu können.
Wie ist denn die Prognose nach Transplantation für Patienten mit HLH?
Wenn die Patienten die Transplantation gut überstehen, dann sind sie in der Regel geheilt, weil der Immundefekt behoben ist. Das ist anders als bei einer onkologischen Erkrankung, bei der ein Rückfall (Rezidiv) auftreten kann. Wird die Krankheit rechtzeitig erkannt, und steht schnell ein Stammzellspender zur Verfügung, ist die Prognose gut. Je früher die Erkrankung erkannt wird, desto besser. Wichtig ist auch die gute Zusammenarbeit mit der DKMS, um schnell einen passenden Spender zu finden. Wird die Krankheit hingegen nicht erkannt, können Patienten durch eine schwere Infektion versterben. Das Überleben hängt davon ab, in welchem Zustand die Patienten in die ärztliche Behandlung kommen und ob es gelingt, mit einer immunsuppressiven Therapie die Patienten so lange zu stabilisieren, bis eine Transplantation möglich ist.
Vielen Dank für das Gespräch.
Aktuell sorgt das Schicksal des 18 Monate alten Alessandro für große Aufmerksamkeit. Der Junge, der mit seinen Eltern in London lebt, leidet an Hämophagozytischer Lymphohistiozytose (HLH) und ist dringend auf eine lebensrettende Stammzellspende angewiesen. Zusammen mit seinen Eltern hat die DKMS weltweit einen Hilfsappell gestartet, lesen Sie hier mehr dazu.
*CMV-Viren gehören zu den Herpesviren. Sie verbleiben nach einer Infektion lebenslang im Körper, ohne Krankheitssymptome auszulösen.
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