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24. März 2020, News in Organisation & Transparenz

Stammzell­transplantation in der Coronakrise

Interview mit Gabi Rall, DKMS Direktorin Medical Business and Development

Gabi Rall, Direktorin Medical Business and Development und Leiterin des International Transplantation Service (TCS) der DKMS berichtet über die Schwierigkeiten und die stete Suche nach Lösungswegen bei der Ermöglichung von Lebenschancen für Patienten in der Coronakrise. Die seit 27 Jahren bei der gemeinnützigen Organisation tätige Expertin sagt: Dies ist die bislang größte Herausforderung, der wir uns als DKMS stellen.

  • Gabi Rall

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    Gabi Rall

    Gabi Rall, Direktorin Medical Business and Development

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  • Transportkoffer für Stammzelltransplantate

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    Transportkoffer für Stammzelltransplantate

    Medizinische Kuriere transportieren Stammzelltransplantate durch die ganze Welt

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Liebe Frau Rall, in Ihrem Bereich werden unter anderem die Stammzelltransporte koordiniert. Was ist derzeit die größte Herausforderung?

Die größte Herausforderung liegt aktuell in der Beantwortung der Frage: Wie bekommen wir unsere Transplantate von A nach B. Konkret, von den Entnahmezentren hin zu den Kliniken, in denen die Patienten behandelt werden. Die Patienten können sich innerhalb Deutschlands befinden aber natürlich auch im europäischen und weltweiten Ausland. Ganz wichtig ist mir, darauf hinzuweisen, dass Patienten nach wie vor auf Hilfe angewiesen sind und auf Lebenschancen warten. Wir als DKMS arbeiten mit unseren Partnern rund um die Uhr an Lösungen, in der Hoffnung, alle Transplante zur Verfügung stellen zu können.

Wie erfolgt die Abstimmung auch mit den internationalen Partnern?

Im engen Austausch mit nationalen und internationalen Behörden, WMDA, Stammzellspenderregistern, Entnahmekliniken und Transplantationszentren sowie internationalen Kurierdiensten und Transportunternehmen ist es der DKMS bisher gelungen, dass jede in Deutschland entnommene Stammzellspende sicher zu ihren Empfängern in der ganzen Welt gelangen konnte.

Finden auch weiterhin Stammzellspenden statt?

Nach derzeitigem Stand werden trotz der aktuellen Situation weiterhin täglich bei der DKMS registrierte potenzielle Stammzellspender angefragt, um für einen lebensbedrohlich erkrankten Menschen Stammzellen zu spenden. Die Gesundheit und das Wohlergehen dieser Spender haben dabei Vorrang. Jeder Spender wird individuell beraten und begleitet – insbesondere im Hinblick auf die Reise zu einer Entnahmeeinrichtung. Beim Betreten des Entnahmezentrums und vor dem Beginn der eigentlichen Spende wird ein Screening auf das SARS-CoV-2-Virus durchgeführt. Dies dient dem Schutz des Spenders und des Empfängers sowie den dringend gebrauchten Mitarbeitern in den Entnahmezentren. Gesundheitsexperten haben bestätigt, dass es derzeit keine Hinweise darauf gibt, dass das neuartige Coronavirus über Blut, Knochenmark oder Stammzellprodukte übertragen werden kann, eine wichtige Erkenntnis.

Transplantate werden von Deutschland aus ins weltweite Ausland zu Patienten gebracht – wie funktioniert das derzeit?

Um einen reibungslosen Ablauf an deutschen Grenzen sicherzustellen, hat sich auch die Bundespolizei bereit erklärt, zu helfen. Doch die unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen europäischen Staaten sind eine große Herausforderung. Deshalb adressiert die DKMS gemeinsam mit der WMDA (World Marrow Donor Association) jetzt auch die Europäische Union, um Rechtssicherheit bei der Überwindung aller innereuropäischen Grenzen zu erlangen. Mit großer Unterstützung des US-amerikanischen Stammzellspenderregisters National Marrow Donor Program (NMDP/Be the Match) wurde eine Sondergenehmigung für die Einreise von Stammzellkurieren in die USA erwirkt. Die DKMS ist fest entschlossen, weiterhin alles Menschenmögliche zu unternehmen, um Hindernisse zu überwinden und möglichst vielen Patienten eine zweite Lebenschance zu ermöglichen. Aber wir stehen jeden Tag vor neuen Herausforderungen.

Können Sie ein konkretes Beispiel für diese länderübergreifende Zusammenarbeit geben?

Wir stehen natürlich auch im steten Austausch mit unseren DKMS-Teams an den internationalen Standorten. Dank des Einsatzes unserer großartigen DKMS-Kollegen in Warschau haben wir es geschafft, eine Ausnahmeregelung für die deutsch-polnische Grenze zu bekommen. Diese hat uns einen Korridor ermöglicht, um Produkte aus Polen hinaus bzw. hinein zu bekommen – was sich als besonders wertvoll und wichtig erweist. Wenn also ein medizinischer Kurier aus Polen an die deutsch-polnische Grenze kommt, übergibt er dort in einem speziell zur Verfügung gestellten Raum das Produkt an einen Kurier aus Deutschland. Von hier aus gehen die Produkte dann in die Welt.

Sie sind seit 27 Jahren bei der DKMS. Haben Sie in der Vergangenheit ähnliche Situationen erlebt?

Vorneweg: Dies ist die größte Herausforderung, die wir uns in der 29-jährigen Geschichte der DKMS stellen und wir tun alles dafür, um diese zu meistern.

In den USA sind es beispielsweise regelmäßig Schneestürme an der Ostküste, auf die wir reagieren müssen und unsere Stammzelltransporte entsprechend koordinieren und terminieren. Wir hatten in der Vergangenheit auch mit Naturkatastrophen zu kämpfen, wie etwa im Jahr 2010, als uns der Ausbruch des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull vor massive Probleme gestellt hatte. Damals konnten alle Stammzell- und Knochenmarktransporte rund um den Globus termingerecht stattfinden. Auch alle unsere Spender kamen, zum Teil auch auf Grund von enormer Eigeninitiative, planmäßig zur Stammzellentnahme in unseren bundesweiten Entnahmezentren.

Hunderttausende von Flügen wurden damals gestrichen. Für unsere Patienten eine dramatische Situation. Bei der DKMS war täglich 24 Stunden ein 9-köpfiges Team damit beschäftigt, schnell und unbürokratisch darauf zu reagieren.

Europa war relativ schnell abgesichert – alle Stammzelltransporte wurden mit großem logistischen Aufwand, aber immer „in time“ per Bahn und mit Kurierdiensten zugestellt. Weitaus schwieriger stellte sich die Situation bei den Überseetransporten dar. Um abgesagte Interkontinentalflüge best- und schnellstmöglich zu ersetzen, wurde mit Hochdruck an individuellen Lösungen gearbeitet. Wir haben ständig Kontakt zu den Fluggesellschaften gehalten, und es gab ja vor allem in Südeuropa immer geöffnete Flughäfen, von denen nach Übersee gestartet wurde. Um dorthin zu gelangen, haben wir auf eigene Initiative Flugzeuge gechartert.

Gibt es aktuell ähnliche Überlegungen?

Die Situation hat mittlerweile eine noch viel größere Tragweite erreicht und auch hier arbeiten wir an individuellen Lösungen: Es sind nicht nur die Flüge, die gestrichen werden, sondern auch die Kuriere, die nur noch bedingt einsatzfähig sind. Etwa, weil sie in Quarantäne müssen, wenn sie in einem so genannten Hochrisikogebiet gewesen sind. Daher prüfen wir gerade, in wie weit ein Transport durch Piloten von Cargomaschinen praktikabel ist. Unsere Idee: Die Piloten nehmen während des Flugs Stammzellen nach allen Standards  gesichert in einem Transportkoffer mit ins Cockpit und übergeben sie am Zielflughafen an Fachkräfte, die dann für den Weitertransport in die Kliniken zuständig sind.

Als eine weitere Möglichkeit haben wir unsere DKMS-Kollegen gefragt, ob sie als Kuriere unterstützen möchten.

Welche zusätzlichen medizinischen Maßnahmen werden getroffen, damit die Transplantate ankommen?

Dazu ist wichtig, den regulären Ablauf eines Stammzelltransportes zu kennen. Dieser hat zum Ziel, dass die Stammzellen oder das Knochenmark von Kurieren schnellstmöglich in speziellen Transportkoffern der Fachklinik zugestellt und dem Patienten transplantiert werden, der parallel zur Stammzellentnahme des Spenders bereits konditioniert wird. Hat die Konditionierung – sprich: die Vorbehandlung – eines Patienten auf eine Stammzelltransplantation – mit Hochdosis-Chemotherapie und Bestrahlung erst begonnen, muss die Spende zeitnah erfolgen.

Das Risiko, dass Patienten aufgrund der sich ständig ändernden Lage nicht rechtszeitig ihr Transplantat erhalten, müssen wir aktuell in der Coronakrise so weit wie möglich minimieren. Von allen Fachgesellschaften wie auch für die DKMS wird daher vorübergehend folgendes Vorgehen empfohlen.

Wir sprechen derzeit mit den Transplantationskliniken über eine mögliche Kryokonservierung, also dem Einfrieren auf -180 Grad Celsius, von Transplantaten – entweder im Transplantationszentrum oder in einer unseren deutschen Entnahmezentren, die dafür eine Lizenz haben. Dann könnte die Transplantation beim Patienten in Abstimmung zeitverzögert durchgeführt werden.

Wir wollen allen Patienten helfen – dafür versuchen wir bei der DKMS alles möglich zu machen. Wir können es nicht riskieren, dass es unsere Patienten nicht schaffen, weil sie kein Transplantat erhalten können.

Liebe Frau Rall, herzlichen Dank für das Interview!

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