Von 1 bis 100.000: Medizinische Meilensteine der Stammzellspende
Fünf Fragen an Thilo Mengling, Director International Medical Science der DKMS
Mehr als 100.000 Patient:innen weltweit haben mithilfe einer Stammzellspende von einer DKMS-Spenderin oder einem DKMS-Spender eine zweite Chance auf Leben erhalten – eine großartige Zahl, hinter der die bewegenden Geschichten und Schicksale mindestens ebenso vieler Menschen stehen. Seit der ersten DKMS-Spende vor mehr als 30 Jahren ist auch auf der medizinisch-wissenschaftlichen Ebene viel passiert. Was genau, das haben wir Thilo Mengling, den Director International Medical Science der DKMS, gefragt.
Herr Mengling, wann und wo fand die erste Stammzellentnahme eines DKMS-Spenders statt?
Die erste Stammzellspende eines DKMS-Spenders fand im März 1992 in der Eberhard Karls Universität Tübingen statt. Insgesamt waren es im gesamten Jahr 1992 sieben DKMS-Stammzellspenden. Zum Vergleich: Heute sind es weltweit 21 DKMS-Spenden pro Tag. Das ist wirklich eine enorme und großartige Entwicklung, für die wir unseren Spender:innen von Herzen dankbar sind. Denn jede einzelne Spende ist eine zweite Lebenschance für eine Patientin oder einen Patienten irgendwo auf der Welt.
Wie ging das damals vor sich, waren die Entnahmeverfahren andere als heute?
Zunächst gab es nur ein einziges Verfahren: die Knochenmarkentnahme. Diese funktioniert heute noch genauso wie damals. Dem Spender wird im Rahmen eines kleinen operativen Eingriffs ein Knochenmark-Blut-Gemisch aus dem Beckenkamm entnommen, aus dem dann die Stammzellen gewonnen werden. Schon in der zweiten Hälfte der 90er Jahre kam dann die periphere Entnahme hinzu. Dabei handelt es sich um ein ambulantes Verfahren: Der Arzt legt Venenzugänge in beide Arme und die Stammzellen werden mit einem Apheresemaschine aus dem Blut herausgefiltert. Normalerweise dauert dies drei bis fünf Stunden. Heute kommt die periphere Stammzellentnahme mit 90 Prozent am häufigsten zum Einsatz. Und nochmal ein Vergleich früher versus heute: 1996 waren es nur sechs Prozent, vier Jahre später bereits 24 Prozent aller Entnahmen, die mit diesem Verfahren realisiert wurden. Die Entwicklung hin zur peripheren Entnahme war damals international und ging zunächst von den USA aus. Wir haben die Etablierung in Deutschland seitens der DKMS intensiv unterstützt und vorangetrieben.
Hat sich im Bereich der Vor- und Nachbetreuung unserer Spender:innen seit der ersten Spende bis heute etwas verändert?
Im Wesentlichen hat sich nichts verändert. Die Gesundheit unserer Spender:innen hatte für uns damals höchste Priorität – und genauso ist es heute und in Zukunft. Was die Vorbereitung betrifft: Auch das Medikament G-CSF, das sich unsere Spender:innen an fünf Tagen vor der peripheren Spende verabreichen, ist noch dasselbe wie bei der ersten peripheren Stammzellentnahme. Es dient dazu, die Stammzellen zu mobilisieren, sodass anschließend genügend Zellen aus dem Blut gewonnen werden können. Schon damals war das Medikament etabliert und sicher, da es zuvor bereits seit Jahren im Bereich der autologen Stammzellspende und der Familienspende angewendet worden war. Heute können wir darüber hinaus auf 26 Jahre eigene Erfahrung mit G-CSF zurückblicken. Die jahrzehntelange, systematische Nachbefragung unserer Spender:innen hat bestätigt: Spätfolgen oder Langzeitnebenwirkungen sind weder durch den vorübergehenden Verlust von Stammzellen, noch durch G-CSF zu erwarten.
Wie perfekt war damals das „perfekte Match“ – im Gegensatz zu heute?
Im Bereich des Typisierungsprofils gab es tatsächlich eine enorme Entwicklung. Für den Erfolg einer Stammzelltransplantation mit den Zellen nicht verwandter Spender:innen ist essenziell, dass die HLA-Merkmale von Patient:in und Spender:in übereinstimmen. Das wusste man auch damals schon. Allerdings hat sich die Anzahl der bekannten HLA-Merkmale vervielfacht: Heute sind mehr als 33.000 bekannt. Dazu haben auch unsere Wissenschaftler:innen der DKMS beigetragen, die immer wieder zahlreiche neue bzw. bisher unbekannte HLA-Merkmale entdecken. Darüber hinaus sind mit den Jahren kontinuierlich weitere Marker hinzugekommen, die für den Erfolg einer Stammzelltransplantation relevant sind, zum Beispiel der CMV-Status. Wichtige Meilensteine waren natürlich auch die Fortschritte im Bereich der Sequenziertechnologie, die eine hochaufgelöste Typisierung mit hohem Durchsatz ermöglichen. Das alles hat zur Folge, dass man das Spenderprofil heute sehr viel detaillierter bestimmen kann als früher. Die Suche nach geeigneten Spenderinnen und Spendern ist damit inzwischen sehr viel gezielter genauer – und damit auch die Überlebens- und Heilungschancen der transplantierten Patient:innen.
Wer sich bei der DKMS registriert, erhält heute ein Registrierungsset mit sogenannten „Wattestäbchen“. Haben sich auch die allerersten DKMS-Stammzellspender:innen schon auf diese Weise bei uns registriert?
Damals war die Registrierung deutlich aufwändiger, denn es war eine Blutprobe notwendig, entweder auf einer öffentlichen Typisierungsaktion oder beim Hausarzt. Heute ist es deutlich einfacher: Man bestellt unter dkms.de ein Set mit den „Wattestäbchen“ oder „Buccal Swabs“, wie wir sie nennen. Damit macht man einen einfachen Wangenabstrich und schickt die Stäbchen mit einem mitgelieferten Umschlag in unser Labor in Dresden zur Typisierung. Oder man macht den Wangenabstrich auf einer unserer Aktionen für betroffene Patient:innen direkt vor Ort, das ist selbstverständlich ebenfalls möglich. Die Swabs haben wir erstmalig 2007 zur Registrierung neuer Spender:innen eingesetzt – zunächst ergänzend zum Verfahren der Blutabnahme und für die Online-Registrierung, seit Oktober 2017 verwenden wir sie ausschließlich. Es sind hochwertige Medizinprodukte aus synthetischen Fasern. Mit diesen lassen sich die Zellen der Mundschleimhaut beim Wangenabstrich besonders gut aufnehmen. Um das Verfahren immer besser und stabiler zu machen, haben wir umfangreiche Tests durchgeführt und das Material kontinuierlich optimiert. Eine weitere wichtige Errungenschaft kam in den Jahren 2017/18 hinzu: Unser Labor entwickelte eine Methode, mit der sich auch der CMV-Status per Wangenabstrich bestimmen lässt. Seitdem erhalten unsere Spender:innen für die Registrierung drei statt zwei Swabs.
Vielen Dank, Herr Mengling, für das Gespräch.
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